Pirlo reloaded, aus aktuellem Anlass
(der Text erschien im Tödlichen Herbstpass 2006)
Gattusos
Herrchen
Wenn
Frank Rost nicht so wortkarg wäre, könnte er ein Lied davon singen, mit welcher
Präzision sich der aus dem Fußgelenk heraus beschleunigte Ball nach Überqueren
der perfekt stehenden Mauer in den Schalker Torwinkel senkte. Mit nur drei
Zehen des Fußes treffe er den Ball, das sei sein Geheimnis, außerdem habe er lange
Roberto Baggio und Juninho beim Freistoßtraining zugesehen. Das Ergebnis ist
bekannt: Zurzeit zielt niemand besser als Andrea Pirlo vom AC Mailand, jeder Freund
des perfekt getretenen Freistoßes kann sich auf der inoffiziellen Fan-Site
andreapirlo.com ein Bild davon machen. Wenn er dann vor Ausführung des
Freistoßes noch in der größten Hektik die Anweisungen des Schiedsrichters milde
abnickt, fast teilnahmslos, als wolle er sagen, „Ist schon in Ordnung, ich
warte nur eben, bis die Jungs sich alle wieder beruhigt haben“, dann ist das
keinesfalls mit Arroganz zu verwechseln – es ist Gelassenheit aus der
Gewissheit, einen Ball aus achtzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Metern im Tor unterbringen
zu können, ohne dass irgendein Torwart der Welt etwas dagegen unternehmen
könnte. Wenn es dann vollbracht ist, huscht ein kurzes Lächeln über sein
Gesicht. Auch so kann man jubeln.
Doch
Pirlo, kurioserweise seit frühester Jugend Anhänger des ehemaligen Lokalrivalen
Inter Mailand, ist weit mehr als ein Meister der Ecken und Freistöße. Er ist
der zunächst heimliche und inzwischen kaum noch heimliche Spielmacher des AC
Mailand und der italienischen Nationalmannschaft, wo vor ihm natürlich noch Giganten
wie Kaká und Totti spielen, die viel mehr im Lichte der Öffentlichkeit stehen,
was Pirlo allerdings nur recht zu sein scheint. Obwohl er selbst auch defensiv
stark ist, profitiert er doch besonders von einem Mann, der als der Inbegriff
des bärbeißigen, uneitlen, häufig unsauber spielenden Kampfhundes gilt: Gennaro
Gattuso. Dieser erobert den Ball, per Blutgrätsche, per Ellenbogencheck oder wie
auch immer, und apportiert ihn umgehend. Wie Pirlo dann das Spiel mit einem
schnellen Flachpass eröffnet, und zwar mit links wie mit rechts und genau dann,
wenn die größte Bewegung auf dem Spielfeld herrscht, wenn jeder guckt, wo er
hinlaufen muss, wenn Pirlo den ersten, für den Aufbau des schnellen
Gegenangriffs häufig vorentscheidenden Pass spielt, oft auf Kaká oder auf
Totti, die dann die Früchte seiner Saat ernten, weil sie auf einmal Platz
haben, sind dies nicht selten die interessantesten Momente des Spiels. Gern passt
Pirlo durch die enge Mitte, was nur funktioniert, wenn man wie er über viel
Gefühl für den Raum verfügt, das einem sagt, wo der Ball gerade noch
hindurchpasst und wo man einen Gegner für den Bruchteil einer Sekunde auf dem
falschen Fuß erwischen kann. Seine Pässe sehen dabei oft ganz einfach aus,
nicht zu vergleichen mit den 40-Meter-Pässen eines klassischen Regisseurs,
von denen allerdings auch nur zwei von zehn ankommen, meist auf den weniger
belebten Flügeln, was zwar in der Regel von Kommentatoren und Zuschauern gleichermaßen
beklatscht wird, aber immer noch eine Flanke, einen Rückpass oder ein Dribbling
des angespielten Stürmers verlangt. Dies ist beim Spiel durch die Mitte nicht
notwendig, da man sich als angreifende Mannschaft viel schneller in
aussichtsreicher Schussposition befindet. Dass Pirlo auch den langen Pass zu spielen
weiß, versteht sich von selbst.
"Andrea
Pirlo ist der Anheuser Busch Bud Man of
the Match, weil er während der gesamten 120 Minuten als Spielmacher vor der
Abwehr überragend gespielt hat. Er hat im richtigen Moment stets das Richtige
getan, und sein Zuspiel auf Fabio Grosso, das kurz vor Schluss zum Tor führte,
war sehr klug“, sagte Gyorgy Mezey, Mitglied der Technischen Studien-Gruppe der
Fifa, nach dem Sieg gegen Deutschland. Kurz zur Erläuterung der Auszeichnung:
Der erste Teil ist Werbung für einen renommierten amerikanischen
Mineralwasserhersteller, der zweite trägt dem allgemeinen Wunsch nach
Personalisierung des Mannschaftssports Fußball Rechnung. Wie auch immer:
Inhaltlich muss man dem Herrn zustimmen. Der „Kicker“ schließlich konnte, da von Deco und Ronaldinho wenig bis
gar nichts zu sehen war im Laufe des Turniers, endlich den vom Basketball
entlehnten Terminus „No-look-Pass“ verwenden, um einen solchen habe es sich
gehandelt. Ob look oder no-look: Beeindruckend an der Szene ist
die Ruhe, mit der Pirlo, den Ball eng am Fuß, am deutschen Strafraum entlang
trabt, bis sich nach etwa zwei Sekunden – in der Situation eine kleine Ewigkeit
– die Lücke für den Steilpass ergibt.
Pirlo
selbst sagte vor einigen Monaten über sein Spiel, und man weiß nicht, ob aus Spaß,
aus Verlegenheit oder aus Bescheidenheit, er würde sich manchmal noch zu spät
vom Ball trennen. Das ist etwa so, als würde Wimbledon-Seriensieger Roger
Federer sagen, auf Rasen müsse er sich noch verbessern.
Gerald Wenge
(Der Tödliche Pass)
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