15. Juni 2012


Pirlo reloaded, aus aktuellem Anlass
(der Text erschien im Tödlichen Herbstpass 2006)


Gattusos Herrchen

Wenn Frank Rost nicht so wortkarg wäre, könnte er ein Lied davon singen, mit welcher Präzision sich der aus dem Fußgelenk heraus beschleunigte Ball nach Überqueren der perfekt stehenden Mauer in den Schalker Torwinkel senkte. Mit nur drei Zehen des Fußes treffe er den Ball, das sei sein Geheimnis, außerdem habe er lange Roberto Baggio und Juninho beim Freistoßtraining zugesehen. Das Ergebnis ist bekannt: Zurzeit zielt niemand besser als Andrea Pirlo vom AC Mailand, jeder Freund des perfekt getretenen Freistoßes kann sich auf der inoffiziellen Fan-Site andreapirlo.com ein Bild davon machen. Wenn er dann vor Ausführung des Freistoßes noch in der größten Hektik die Anweisungen des Schiedsrichters milde abnickt, fast teilnahmslos, als wolle er sagen, „Ist schon in Ordnung, ich warte nur eben, bis die Jungs sich alle wieder beruhigt haben“, dann ist das keinesfalls mit Arroganz zu verwechseln – es ist Gelassenheit aus der Gewissheit, einen Ball aus achtzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Metern im Tor unterbringen zu können, ohne dass irgendein Torwart der Welt etwas dagegen unternehmen könnte. Wenn es dann vollbracht ist, huscht ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. Auch so kann man jubeln.
Doch Pirlo, kurioserweise seit frühester Jugend Anhänger des ehemaligen Lokalrivalen Inter Mailand, ist weit mehr als ein Meister der Ecken und Freistöße. Er ist der zunächst heimliche und inzwischen kaum noch heimliche Spielmacher des AC Mailand und der italienischen Nationalmannschaft, wo vor ihm natürlich noch Giganten wie Kaká und Totti spielen, die viel mehr im Lichte der Öffentlichkeit stehen, was Pirlo allerdings nur recht zu sein scheint. Obwohl er selbst auch defensiv stark ist, profitiert er doch besonders von einem Mann, der als der Inbegriff des bärbeißigen, uneitlen, häufig unsauber spielenden Kampfhundes gilt: Gennaro Gattuso. Dieser erobert den Ball, per Blutgrätsche, per Ellenbogencheck oder wie auch immer, und apportiert ihn umgehend. Wie Pirlo dann das Spiel mit einem schnellen Flachpass eröffnet, und zwar mit links wie mit rechts und genau dann, wenn die größte Bewegung auf dem Spielfeld herrscht, wenn jeder guckt, wo er hinlaufen muss, wenn Pirlo den ersten, für den Aufbau des schnellen Gegenangriffs häufig vorentscheidenden Pass spielt, oft auf Kaká oder auf Totti, die dann die Früchte seiner Saat ernten, weil sie auf einmal Platz haben, sind dies nicht selten die interessantesten Momente des Spiels. Gern passt Pirlo durch die enge Mitte, was nur funktioniert, wenn man wie er über viel Gefühl für den Raum verfügt, das einem sagt, wo der Ball gerade noch hindurchpasst und wo man einen Gegner für den Bruchteil einer Sekunde auf dem falschen Fuß erwischen kann. Seine Pässe sehen dabei oft ganz einfach aus, nicht zu vergleichen mit den 40-Meter-Pässen eines klassischen Regisseurs, von denen allerdings auch nur zwei von zehn ankommen, meist auf den weniger belebten Flügeln, was zwar in der Regel von Kommentatoren und Zuschauern gleichermaßen beklatscht wird, aber immer noch eine Flanke, einen Rückpass oder ein Dribbling des angespielten Stürmers verlangt. Dies ist beim Spiel durch die Mitte nicht notwendig, da man sich als angreifende Mannschaft viel schneller in aussichtsreicher Schussposition befindet. Dass Pirlo auch den langen Pass zu spielen weiß, versteht sich von selbst.
"Andrea Pirlo ist der Anheuser Busch Bud Man of the Match, weil er während der gesamten 120 Minuten als Spielmacher vor der Abwehr überragend gespielt hat. Er hat im richtigen Moment stets das Richtige getan, und sein Zuspiel auf Fabio Grosso, das kurz vor Schluss zum Tor führte, war sehr klug“, sagte Gyorgy Mezey, Mitglied der Technischen Studien-Gruppe der Fifa, nach dem Sieg gegen Deutschland. Kurz zur Erläuterung der Auszeichnung: Der erste Teil ist Werbung für einen renommierten amerikanischen Mineralwasserhersteller, der zweite trägt dem allgemeinen Wunsch nach Personalisierung des Mannschaftssports Fußball Rechnung. Wie auch immer: Inhaltlich muss man dem Herrn zustimmen. Der „Kicker“ schließlich konnte, da von Deco und Ronaldinho wenig bis gar nichts zu sehen war im Laufe des Turniers, endlich den vom Basketball entlehnten Terminus „No-look-Pass“ verwenden, um einen solchen habe es sich gehandelt. Ob look oder no-look: Beeindruckend an der Szene ist die Ruhe, mit der Pirlo, den Ball eng am Fuß, am deutschen Strafraum entlang trabt, bis sich nach etwa zwei Sekunden – in der Situation eine kleine Ewigkeit –  die Lücke für den Steilpass ergibt.
Pirlo selbst sagte vor einigen Monaten über sein Spiel, und man weiß nicht, ob aus Spaß, aus Verlegenheit oder aus Bescheidenheit, er würde sich manchmal noch zu spät vom Ball trennen. Das ist etwa so, als würde Wimbledon-Seriensieger Roger Federer sagen, auf Rasen müsse er sich noch verbessern. 


Gerald Wenge
(Der Tödliche Pass)

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