24. Oktober 2016

Rote-Brause-Spritzer auf Herrn Rummenigges weißem Hemd

Achter Spieltag der ersten Liga: RB Leipzig setzt sich ungeschlagen auf den zweiten Tabellenplatz und heftet sich an die Fersen der Bayern aus München. Die der Tradition verpflichteten Ballliebhaber*innen sehen's mit Schmerzen, die Ballfinanzjongleure mit Vergnügen.

Noch zu Beginn dieser Saison hatten viele Klubobere gegiftet, dass Geld keine Tore schieße und siehe RB Salzburg und CL. Der in Sachen finanzielle Ausbeutung des Profifußballs in Deutschland führende Herr Rummenigge hatte da noch locker formuliert: „Es ist schön und gut für die Bundesliga, dass ein Klub aus dem Osten wieder in der Bundesliga ist.“ Und auf die Frage, wann RB zum ersten Mal Meister werde, geantwortet: „Das werde ich nicht erleben…“

Wenn er sich da mal nicht irrt.

Vor zwei Jahren, im Januar 2014, wagte er eine knallharte Prognose:  "RB Leipzig wird nicht für den FC Bayern, sondern eher für die DFL ein Problem". Dies in Anspielung auf die 50+1-Regelung der DFL.

Und hatte die Betriebssportgruppe von VW hoch gelobt:  "Wolfsburg macht das schon eher ein Stück ähnlich wie wir. Sie setzen sehr auf Zukäufe mit De Bruyne, Gustavo, Diego und Dost, bauen daneben junge Talente ein. Das wird ein Klub sein, mit dem wir in Zukunft zu rechnen haben."

Aktueller Tabellenplatz des VfL: 16.

16. Oktober 2016

Kraftfelder

Ein physikalisches Kraftfeld, so definieren die Wikipeden, ist ein Feld, dessen Feldstärke auf einen Probekörper eine Kraft ausübt. Eine allseits akzeptierte Definition gibt es wohl nicht; einige Physiker verstehen unter dem Kraftfeld eine Feldfunktion mit der Dimension einer Kraft, die vom  verwendeten Probekörper abhängig ist. Dabei, so weiter im Zitat, ist die Abhängigkeit vom Probekörper ohne Rückwirkung des Probekörpers auf das bestehende Feld zu verstehen.

Im Fußball ist das ähnlich. Ein sportliches Kraftfeld im Fußball, so definiere ich mal aus der hohlen Hand, ist ein Wettbewerber-Feld, dessen Feldstärke auf einen Mannschaftskörper eine Kraft ausübt. Dabei ist die Kraft dieser Kraftfelder abhängig von den Mannschaften. Anders als in der Physik kann die Abhängigkeit jedoch nicht ohne Rückwirkung auf das bestehende Feld, genauer: Bewerberfeld und letztlich auch Fußballfeld verstanden werden.

Soll heißen: Ändern sich die Kraftfelder, treten Kräfteverschiebungen auf, und seien sie auch nur geringfügig, Das ist bei der zunehmenden Breite an der Spitze - danke, Berti - insofern beachtlich, als nicht nur die von einer Kräfteverschiebung betroffenen Probekörper, sprich: Mannschaften auf dem Feld für das folgende Kräftemessen entsprechende Wirkungen zu verzeichnen haben, sondern auch die nur mittelbar betroffenen.

Wenn also der schon vor der Saison als Meister gehandelte FC Bayern in Frankfurt wie schon vorher gegen Köln "nur" Unentschieden spielt, könnte dies anderen Teams derart Auftrieb geben, egal ob Marke Tradition, Investition oder Retorte, dass das gesamte Kräftegefüge ins Wanken gerät und neue Feldstärken produziert, mit denen niemand vorher gerechnet hat. Dabei kann es freilich auch zu deutlichem Kräfteverschleiß und FeldSCHWÄCHEN kommen, und dies bei Mannschaften, denen man zu Beginn des Wettbewerbs noch höhere Feldfunktionen zugewiesen hatte.

So gesehen könnte es tatsächlich sein, dass die dem Fußballspiel inhärente Kraft die nominellen Feldstärken unvorhergesehen schwächt und damit schlicht: DIE SAISON WIEDER SPANNEND MACHT!

22. September 2016

„Ich bin gläubig und ich spiele gerne Fußball!“ - Interview mit Niango Nkomo (19) aus dem Senegal, seit drei Jahren in Bayern


 
DER TÖDLICHE PASS: Herr Nkomo, Sie sind ja vor drei Jahren, also vor der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland gekommen – was war der Anlass dazu?

NIANGO NKOMO: Meine Eltern sind bei einer Explosion ums Leben gekommen, ich bin das älteste von fünf Kindern, ich wollte Geld verdienen, aber im Senegal ist das schwer. Ich habe dann von einem Freund gehört – wir waren im selben Fußballklub in Dakar – von einem Mann, der gegen Geld einen Weg nach Europa weiß.

DTP: Ein Schleuser…?

NN: Ja, dem habe ich alles Geld unserer Familie gegeben und er hat mich nach Europa gebracht.

DTP: Auf welchem Weg ging das?

NN: Das will ich nicht sagen. Ich darf es nicht sagen, das war das Geschäft.

DTP: Wie sind Sie dann nach Deutschland und nach Bayern gekommen?

NN: Meine Eltern haben mich sehr christlich erzogen, sie haben mich immer in die Kirche mitgenommen. Und ich bin ein gläubiger Christ geworden! Wir hatten viele Christen in unserer Fußballmannschaft. Wie ich in Europa angekommen bin, habe ich aus Dank zu Gott gebetet und das hat jemand gesehen, der hat mich zu einem christlichen Haus gebracht und die haben mir dann einen Platz in einem Flüchtlingsheim in Bayern – wie sagt man: geschafft?

DTP: Verschafft. Sie sind ja in einer sehr ländlichen Gemeinde untergekommen; wie wurden Sie aufgenommen?

NN: Zuerst habe ich mich nur gefreut, dass ich in Deutschland war. Und viele Menschen waren auch freundlich zu mir. Sie wollten zuerst nicht glauben, dass ich ein Christ bin. Aber der Pfarrer hat mir in die Augen geschaut und gesehen, dass ich eine gute Seele und keine schwarze Seele habe, hat er gesagt. Er hat mich sogar als Diener in die Kirche genommen…

DTP: … als Ministrant?

NN: Ja so heißt das, genau. Da darf ich den Wein tragen und der Pfarrer schüttet ihn dann aus. Und ich spiele hier Fußball!

DTP: In einem Verein?

NN: Jaja, ein Verein! Ich spiele Jungen…

DTP: … Jugend…

NN: … ja Jugend, und da bin ich ein Rechtsverteidiger.

DTP: Das ist doch schon mal eine vielversprechende Position. Sind Sie denn als Flüchtling offiziell anerkannt?

NN: Ich habe eine Duldung, heißt das so? Und ich will auch nicht mehr zurück. Ich bin in einer Schule für einen Beruf, Automechaniker…

DTP: Da lernen Sie dann auch, wie man schummelt…

NN: Was ist „schummeln“?

DTP: Wenn man im Strafraum hinfällt, aber es war gar kein Foul…

NN: Oh ja, das lerne ich beim Fußball! Sagt der Trainer, wir müssen auch eine Schwalbe können!

DTP: Aber geht das nicht gegen Ihren christlichen Glauben?

NN: Nein, Gott verzeiht meine Sünden, große und kleine Sünden! Gott verzeiht auch Politikern, die Flüchtlinge heimschicken wollen.

DTP: Denken Sie da an bestimmte Politiker?

NN: Nein, viele Politiker sagen so. Aber vor ein paar Tagen hat ein christlicher Politiker aus Bayern gesagt, dass er Flüchtlinge aus Senegal nicht heimschicken will –

DTP: Äh, naja, er meinte, dass er solche wie Sie nicht mehr loskriegt –

NN: Jaja, nicht mehr weg, nicht mehr weg von hier. Das ist ein guter Mann, und ich habe dem Pfarrer sofort gesagt, dass ich in diese Partei will.

DTP: Wie? Sie wollen in die CSU eintreten?

NN: Jaja, CSU, das ist eine christliche Partei, und alle Politiker werden mir helfen. Das sind gute Menschen, die haben keine schwarze Seele.

DTP: Wenn Sie sich da mal nicht täuschen… Herr Nkomo, wir wünschen Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute.

12. September 2016

Doppelte Stammesbürgerschaft

Bald wird angestochen - das erste Fass Oktoberfestbier, und dann ist eines der größten jährlich wiederkehrenden, staatlich tolerierten und  tourismusamtlich heftigst beworbenen Drogen-Festivals, vulgo die Wiesn, in München eröffnet. Die Droge Alkohol fließt dann stündlich hektoliterweise, und wer was auf sich hält, stolziert mit einem neuen Outfit daher.

Der Lokaltermin ist auch für die Vertragsspieler des FC Bayern schon seit langem Pflicht; unbeschadet der kulturellen und nationalen Herkunft wird jeder von ihnen in Trachtenhemd und Lederhose gezwängt, auf dass die Freistaatshymne "Gott mit dir, du Land der Bayern" zwangsintegrativ zumindest im Profifußball eine mindestens zweite Bedeutung erhält.

Doch auch der FC-Bayern-Fan kann, noch dazu wenn er oder sie aus Bayern stammen, die Wahrzeichen der doppelten Stammesbürgerschaft zur Schau stellen. Das erlauben Merchandise-Katalog: hier findet sich alles, aber auch wirklich alles, was der Wiesngänger braucht. Vom Trachtenhemd über Halstuch, Lederhose, Strickjacke, Socken, Samtweste, Softshelljacke, Longsleeve, Poloshirt, Handtasche, Dirndl, Bluse, Leder Lanyard, Filzhut, Faltshopper, Badehshorts, Maßkrug, Bierdeckel, Wiesnschal, Schlüsselanhänger, Lebkuchenherz, Baby-Nuckelkrug und Badeente Trachtenedition gibt es alles, was das Bayern-Wiesn-Herz begehrt, denn auf allem prangt das FC-B-Logo und die Freistaatsraute.

Das gesamte Bayern-Protzprogramm kostet rundum einen schlappen Tausender! Und nachdem die Marketingabteilung diese Sachen nicht einfach mal so produzieren lässt, scheint das wohl auch gekauft zu werden. 1000 Euro!

Und am Ende (der Sauftour) gibt's zur FC-Bayern-Wiesn-Tracht ja vielleicht sogar noch eine Tracht umsonst: Prügel nämlich... Es sollen ja auch Sechzger, Dortmunder, Schalker etc. pp. schon in den Zelten gesehen worden sein...

Lob des Kunstschusses

Dresden - Lotte - Leipzig - Darmstadt - Hoffenheim: fünf Lichtblicke im Profitfußball, die auf bessere Zeiten hoffen lassen!

Wie meinen?

Nun, viel wurde geredet und publiziert und diskutiert und wieder beredet um Taktik, die falsche 9, die doppelte 6, der deutsche Achter (hoppla, falsche Sportart), eine verschobene Raute, eine flache Raute, Dreier- oder Viererketten: man konnte meinen, dass ohne Taktikwissen - oder zumindest dem, was sog. Experten für Taktikwissen ausgaben - könnte man kein Fußballspiel mehr sehen, geschweige denn verstehen.

Nun also das Lob des Kunstschusses: des Einzelgängers, des Einzelnen, der eben nicht bis in die zehnte Minute der Nachspielzeit der taktischen Anweisung des Laptoptrainers folgt, sondern einfach mal draufhaut, sein Glück versucht, das Spiel Fußball spielt, und möglicherweise Erfolg hat oder auch nicht. So wird ein Fußballschuh draus.

Und die Ligen werden wieder spannend. Hoffen wir also auf das anarchische Element - und die Querköpfe im besten Sinne, die ein Fußballspiel, selbst in seiner Profit-Variante, wieder ansehnlich machen.

2. September 2016

CSU wird aus nächstem Wahlkampf ausgeschlossen

Das klingt nicht nach Fußball und absolut unglaublich, und das ist es auch. Aber mal angenommen den Fall: Bei einer Parteiveranstaltung kommt es zwischen einigen Anhängern dieser Partei und Gegenaktivisten zu handfesten Auseinandersetzungen, bei der auch Feuerwerkskörper eingesetzt werden; solche Auseinandersetzungen hat es in der Vergangenheit zuhauf bereits gegeben, ohne dass sich die Situation gebessert hätte, trotz intensiver Intervention der Partei. Ein Gericht urteilt nun, dass die Partei keine Geldstrafe mehr verdient, sondern aus dem nächsten Wahlkampf ausgeschlossen wird.

Womit wir beim Pokalspiel Magedeburg gegen Frankfurt sind. (Zugegeben, ein wenig spät, aber die Frage trieb mich um.) Hier kam es zu brutalen Angriffen von sog. Eintracht-Fans auf Magdeburger Fans sowie weitere angereiste Zuschauer, um es mal so zu formulieren. Wieder einmal, die Eintracht weist eine lange Liste in dieser Hinsicht auf.

Gemunkelt wird, dass die Eintracht nicht mehr mit einer Geldstrafe davonkommen wird, sondern vom Pokal - wie weiland Dynamo Dresden - ausgeschlossen wird.

Der Vergleich hinkt? Wie wär's dann damit: Bei einem Konzert der Toten Hosen kommt es zu brutalen Schlägereien zwischen Hosen-Fans und, sagen wir, Andersgesinnten. Die Band wird dazu verurteilt, weil die Schlägerei nachweislich von ihren Fans ausging, eine Geldstrafe von 20.000 Euro zu leisten. Hinkt auch?

Was ich damit sagen will: Es ist an der Zeit, die kriminellen Subjekte ausfindig zu machen und als solche zu behandeln. Mit Fußball und Verein hat dieses asoziale Verhalten nichts zu tun, nie zu tun gehabt.

Übrigens: die Wahl der Partei in der Überschrift ist vollkommen willkürlich und drückt weder Affinität noch Abneigung aus.

1. Juli 2016

Praktikumsbescheinigung


Gestern war in der Online-Ausgabe des Tagesspiegel zu lesen, dass Hertha BSC einen neuen Claim habe.

Der Tödliche Pass hat im Altpapier der vom Verein beauftragten Agentur gewühlt und aktuelle Tagebucheinträge der Praktikantin Jenny (20, Name von der Redaktion geändert) gefunden. Jenny war, wie es scheint, maßgeblich an der Entwicklung des neuen Claims beteiligt.
Auszüge:
Am Montag steht Scarface plötzlich wieder hinter mir. Ich hasse seine Art, sich leise von hinten anzuschleichen und mir dann die Hände auf die Schulter zu legen. Ich hätte den Schreibtisch lange umstellen müssen – aber wie, wohin? Jeder Agenturhund hat hier mehr Platz als ich. Ich hasse die Versuche von Scarface, mich Woche für Woche zum Mittagstisch an diesem Sushi-Fließband zu überreden; vermutlich will er damit kompensieren, dass er mir für das sechsmonatige Praktikum kein Geld bezahlt. Egal. Zwei Tage noch. Scarface steht also hinter mir und sagt:
„Fußball“.
Ich: „Ja?“
Scarface grinst.
„Kennst du dich mit Fußball aus?“
„Bisschen. Eigentlich nicht.“
„Perfekt.“
„Was soll ich tun?“
„Einen Claim für einen Berliner Fußballclub entwickeln.“
„Union?“
„Hertha.“
„Scheiße.“
„Ja.“
„Bis wann?“
„Gestern.“
„Gut. Haben die denn noch keinen Claim?“
„Doch: HaHoHe – Hertha BSC.“
„Scheiße.“
„Ja.“
Ich rufe Jan an, der immerhin ab und zu ins Stadion geht und neulich so traurig war, dass Reus nicht mir zur WM oder EM durfte. „Für Hertha?“, fragt er? „Ja.“ Wir lachen. Ich höre am Telefon, wie er überlegt. „We lose – and no one cares“, schlägt er vor. „Warum auf Englisch?“, frage ich. „Keine Ahnung. Für die ganzen Russen und Dänen, die in Berlin die Wohnungen wegkaufen. Sonst sag als Grund „Asien“, falls dich jemand fragt, Asien geht immer.“
Am Dienstag gehe ich mittags dann wirklich mit Scarface zum Japaner. Ich hasse den Laden mit diesen ganzen bärtigen Mitte-Spackos, die da mit ihrem Mac sitzen und zwischen zwei Stücken Sashimi an irgendeiner App basteln, doch er müsse mir "etwas Wichtiges sagen", so Scarface am Morgen. Dann rückt er raus mit der Sprache: Mein Vorschlag habe ihm sehr gut gefallen, geradezu begeistert gewesen sei er, nur minimal habe er ihn ändern müssen: „We try. We fail. We win.“
Und ob ich eine Praktikumsbescheinigung brauche.



Man weiß ja nie:
Liebe Anwälte, es handelt sich um einen satirischen Text.


15. März 2016

Der Rest ist Dorffußball

Die berühmten Spatzen haben es ja schon lange von den berüchtigten Dächern gepfiffen - jetzt wird es konkret: die SUPERLIGA soll kommen!

Eine eigene europäische Liga im regulären Spielbetrieb werde angestrebt, so heißt es in diversen Medienberichten, die zwar nix Genaues wissen, aber wer den Herrn Rummenigge kennt, der weiß, was dran ist. Der Herr Midas arbeitet nun schon seit vielen Jahren auf genau das hin.

Die SUPERLIGA formerly known as Champions League - ABER: als geschlossene Gesellschaft. So sehe es angeblich ein UEFA-Entwurf vor. Heißt: wer drin ist, bleibt auch drin. Es sei denn, er geht pleite. Ansonsten: Abstieg nicht vorgesehen. Aufstieg auch nicht, zwangsläufig. Paris St. Germain gegen FC Bayern München, FC Barcelona gegen Manchester United in der Endlosschleife. Und täglich schießt das Murmeltier.

Das spiegelt nicht nur amerikanische Verhältnisse wider, sondern weltweite: die Reichen bleiben unter sich. Der Profi(t)fußball als "Gated community". Und  der Rest ist Dorffußball.

Wer hat dann noch Zeit für die nationalen Meisterschaftsspiele? Wer hat noch Zeit für zweite und dritte Ligen? Augsburg gegen Mainz - who cares? Hamburg gegen Bremen - who gives a shit? Kiel gegen Erfurt - gähn...

Aber wer weiß: am Ende stirbt das Murmeltier an Fettleber. Und plötzlich feiert der Dorffußball fröhlich seine Urstände. Mal sehen, wer den längeren Atem hat.

12. März 2016

Gespenstisch leise

Der Besitz einer Dauerkarte gilt als letztinstanzlicher Ausweis des Fanseins. Dabei ist es ohne Dauerkarte viel schöner.

Nehmen wir das gestrige 3:4 des FC St. Pauli, das der Unterzeichner in Vertretung und in Abwesenheit von Arne besuchte, seines Zeichens Besitzer einer Dauerkarte auf Lebenszeit, die ihn vor einigen Jahren, als es dem FC mal wieder richtig dreckig ging, als Ulrich H. seine Wampe ins braune Retter-Shirt presste wie sonst Schweinegeschreddertes in Naturdarm (oder war das früher, oder später? Es ging dem FC St. Pauli so oft so schlecht.), 1.910,00 Euro gekostet haben dürfte.

Der lila eingefärbte Abendhimmel über dem Hafen, das grelle, nie blendende Flutlicht, die lauten Glockenschläge, mit denen "Hells Bells" beginnt, der mit 5 Euro pro Flasche grotesk überteuerte Sommersby-Cider, der in einen Hartplastikbecher umgefüllt wird, auf dem sich ein Foto von André Schubert befindet, die entspannte Aufgeregtheit in den Gängen hinter der Tribüne, der heilige Ernst, mit dem die Männer (fast nur Männer) ihren vollen Bierbecher zum Mund führen, in  Vorabkonzentration auf das in fünf Minuten beginnende Spiel, in Gedanken wenden sich diese Männer vor dem Herauslaufen noch einmal an die Mannschaft, die in der Kabine vor ihnen sitzt, dann die beiden Teams, das des FC und das des SC Paderborn, vor dem Ewald Lienen zu Recht gewarnt hatte, wie sich zeigen sollte, die Ratschesuche, die Frage, ob er diesmal größer sein wird als sein Einlaufkind, der Gedanke, dass ein beim FC Barcelona spielender Ratsche innert weniger Wochen ein Mann für Löw wäre, die Eiseskälte, der Elfer Sobiechs, der vom hinteren Ende der Gegengerade zunächst aussah, als würde er weit über das Tor gehen, dann aber doch millimetergenau in den Torwinkel passte, der über den Abend immerhin dreimal angespielte "Song 2" von Blur, die fast klinisch reinen, schönen, vollkommen lautlosen Tore des SC Paderborn, Tore der Auswärtsmannschaft fallen immer gespenstisch leise, werden die Pässe, die zum Tor führen, doch nie von den kollektiven Aaaahs und Oooohs des großen Publikums begleitet, der schöne Name Hartherz, den man seit Werderzeiten nicht mehr gehört hatte ...

Will man das alles wirklich im Zweiwochenrhythmus haben, in dem die Erinnerung an ein solches Spektakel über- und überlagert wird von einem unsäglichen Nullnullgewürge, von einem mühsam ermauerten 1:0? Nein, dafür ist die Erinnerung zu kostbar, dafür ist das Vergessen zu wichtig, das erst ein neuerliches Erleben möglich macht. Nur fallen leider in den wenigsten Spielen sieben Tore - und Ratsche ist auch bald weg.

Gerald W.